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← Thomas Körner






Die griechische Mythologie kennt keinen eigenen Mythos der Eurydike.
Eurydike kommt lediglich vor im Mythos ihres Mannes, des Dichters Orpheus.
Dieser stieg nach ihrem Tod in den Tartaros hinab, um sie zurückzuholen.
Hades erlaubte die Rückkehr unter der Bedingung, daß Orpheus sich nicht nach
Eurydike umschaut, bis beide das Sonnenlicht erreicht haben.
Orpheus drehte sich aber nach ihr um.
Und verlor sie für immer.
Was der Mythos verschweigt, ist Eurydikes Leben:
Daß sie aus bescheidenen Verhältnissen stammend, früh harte Arbeit verrichten
mußte;
Als junge Frau in den Krieg geriet, vergeblich versuchte, der Gewalt zu entfliehen;
Verschüttet lag unter den Trümmern eines eingestürzten Hauses;
Gerettet wurde;
Vor der Ehe mit Orpheus schon zwei mal verheiratet und Mutter eines Sohnes war...
Und der Mythos verschweigt das Wichtigste:
Daß Eurydike selbst Dichterin gewesen ist, die an dem, was sie hatte erdulden
müssen, erkrankte;
An dem, was sie zur Sprache bringen wollte, zerbrach;
Und darum freiwillig ihrem Leben und ihrer Liebe ein Ende setzte.
Manche sagen, daß Orpheus nicht ohne Schuld an ihrem Tod war.
Und aus diesem Grund versucht habe, Eurydike in die Welt der Lebenden
zurückzubringen.

I

Eingesperrt krank in dieses Haus
Unklar der Befund
Unerträglich die Schmerzen
Wer will mich zwingen
Gesund zu sein
Ich
Das ist unmöglich
Das ist eine Anstrengung
Schlimmer als die Krankheit

Die Ärzte zögern die Diagnose hinaus
Sie haben nichts in der Hand
Am Ende ihrer Weisheit
Und meiner Geduld

Im Krankenbett liegen und arbeiten
Liegend lesen Liegend denken
Im Liegen warten
Auf wen Auf ihn
Auf den Bruder Auf den Sohn

Schmerzblind
Im Dunkeln
Klopft das Herz
Vor Müdigkeit

Der hagere Mann spricht
Von der Erinnerung
Er spricht von einem Stein
Im Wasser Einem Messer
Das still zu Grund sinkt

Der Mann ist mir fremd
Die Bilder sind schön
Die Schmerzen bleiben

Nicht die Ausdauer verlieren
Was sind das für Schmerzen
Sind es marodierende Banden
In meinem Hirn
Alpträume Schuld
Das was nicht entstehen will
Nicht entstehen kann
Das Verhinderte
Die Leere im Kopf
Die Müdigkeit
Der Schnitt

Durch die Pulsadern
Wie die Sirene mit hohem Ton
Vorüber Haus für Haus
Der heruntergeblühte Flieder
Die Dorfstraße Die Blicke
Das Brennen im Magen
Die große Idee
Leben Lieben Schreiben

Am Ende der Fahrt
Das eiserne Bett
Ein trübes Fenster
Der Stuhl
Und die Stimmen aus Mull

Es riecht nach Meer
Mein Herz arbeitet
Über das Wasser zieht
Penthesilea
Sie sucht einen Partner
Für den Tod
Sie treibt ihr Pferd
Durch die Landschaft
Landschaften die für Großes taugten
Wie soll hier Großes entstehen

Ich muß schwimmen
Das Wasser ist kalt
Ich will nicht fliehen
Ich bin keine Kriegerin
Ich suche keinen Partner für den Tod

Wasser oder Blut
Mark oder Bein
Wer ruft hier wen
Wer spielt hier welche Rolle

Die Handgelenke schmerzen
Das Blut schmerzt
Es zieht kreise im Wasser
Ich verlasse das Meer

Ich will den Schmerz bekämpfen
Ich will nicht fliehen
Und ich muß nicht sterben

Ich mache nur Pause
Lasse mich sanft treiben
Und folge der Schwerkraft
Laufe auf dem weißen Sand
Beobachte die Wellen
Und schreibe sie auf
Wie einfache Wörter
Sie fließen zurück
Und beginnen erneut


II


Die Sprachlosigkeit
Nimmt zu
Die Wörter befinden sich
Auf dem Rückzug

Leide ich daran
Nicht mehr
Doch etwas fehlt mir
Was ist das

Von geheimen Verbrechen
Offen reden
Statt sie zu verschweigen
Alles soll ausradiert werden
Alles soll erstarren

Sie sortieren
Sie mißtrauen gründlich
Sie glauben an Verschleierung

Sie setzen jemanden
Auf einen an
Sie ermitteln
Die Einstellung
Das Negative

Wie man aussieht
Wo man hinfährt
Wie man sich betätigt

Jeder hat jeden im Blick
Denunziation
Sie haben Hintergedanken
Wir müssen herhalten
Gegen die eigenen Chimären
Kämpfen sie
Das macht sie empfindlich
Weiter als sie dachten
Sind die Abtrünnigen
Eine unsichtbare Zeit
Kämpfe im Dunkeln
Ein Nichts das wächst

III

Drängt mich nicht
Gebt mir Zeit
Das Leben ist bodenlos
Wie das Vergessen
Und die Liebe
Die ich zur Welt brachte
Wie meinen Sohn
Im Anfang war das Kind
Nichts ist entschieden
Noch nicht
Sein Schatten liegt
Noch unerfahren
Unter meinen Augen

Schön ist der Garten
Mit den alten Kirschbäumen
Die sich entfernenden Schritte
Der Eingang zum Park
Eine schwarze Schneise
Aus feuchter Erde
Bäumen und Luft
Kühl und still
Ist die Zeit des Tages

Die Wege gehen die man nicht kennt
Den Schatten entlang
Was soll werden
Wer will mich
Bei sich haben
Auf dieser Reise

Eine Frau wird gesucht
Sie ist nicht aufzutreiben
Für das Raubtier
Im Käfig
Ich bin gerüstet
Mich einzurichten
Im Nichts

Mit dem Körper spielen
Die Zähne entblößen
Die Pranken setzen
Den Käfig entlang laufen
Damit sich anfreunden

Das ist nicht das Richtige
Gib das auf

Irgend etwas schwelt
Ist das nur Gerede
Das Geistige verschwindet
Wird verhindert
Statt dessen willfährige
Vernichtung
Nach und nach
Was immer man tut

Willkür und Macht
Viele leiden an
Völliger Erschöpfung
Kalt ist jeder Tag
Auf Abruf
Bedingungslos
Kaum mitzubekommen
Es fehlt an allem

Zu sehr gefreut
Die Verbrecher loszuwerden
Wir verschwinden
Im Ausmaß der Zerstörung
Die Entscheidung fällt schwer

Feierlicher
Etwas trauriger
Stets dasselbe tun
Die Reihe nicht
Abreißen lassen
Perfekt
Moderne Fließbänder
Aus Fleisch nackt

Atemberaubend
Die Kunst der Verwandlung
Es geht in jedem Fall weiter
Ohne Pause
Ohne Vergangenheit
Ohne Erinnerung
Das Gefühl der Wiederkehr
Des einst Grenzenlosen
Farben Licht Töne
Wo gibt es das
Egal
Das läßt sich niemand entgehen
Nicht umsonst
Nicht diese ewig Naiven
Die unauffällig lächelnd
Das Glas noch hoch halten

Sich zeigen
Unnahbar sein
Mehr nicht

IV

Wo will man unterkommen
Die Frage ist unbeantwortbar
Später vielleicht
Im Wunderland
Aus Einbildungen
Und Märchengestalten

Da ist die Straße
Wo der Zirkus wohnt
Die bunte Karawane
Exotischer Tiere
Und große Leute
Die abends zusammensitzen
Schweren Herzens
Erzählen Rauchen Trinken
Die Nächte enden
Auf immer die gleiche Weise

Sie machen Musik und singen
Der Ton von fern
Anschwellend und abschwellend
Die rothaarige Frau
In der Hand die Zigarette

Was soll’s
Wird schon werden
Es nehmen wie es kommt
Irgend etwas ist immer geworden
Von Auswahl keine Spur

Meine siebte Wohnung
Ist eine Idylle im Sand
Nicht wirklich schön

Klares Licht
Gewichtiger Himmel
Kiefern am See
Und Stimmen der Vögel
Wasser rinnt durch die Niederungen
Durch Sumpf und Luch und Bruch und Fließ

Was ist dieses Haus
Ohne Zeichen
Ohne Inschrift
Nichts

Auf dem Waldboden
Die tote Eidechse
Sich bücken
Das Skelett bestaunen
Es leise in die Tasche stecken

Geduld haben

V

Ist da jemand
Schutt bröckelt
Vielleicht ist ein Klopfen zu hören
Oder Stimmen
Da sind Stimmen

Ich schlage gegen das Rohr
Hallo
Hören Sie
Melden Sie sich
Licht
Von oben
Taschenlampen
An den Wänden entlang
Der Strahl
Fällt auf mich

Da liegt sie
Eine Frau
Im Schutt
Sie bewegt ihren Mund
Sagt ihren Namen
Das Winseln ist ihr Hund

Ich versuche mich zu erheben
Mit geschlossenen Augen
Rutsche ab
Liege wieder im Staub
Eine Hand
Hart
Packt zu
Zieht meinen Körper auf die Straße
Gerettet

So viele Betrunkene
Es wird gesungen und getanzt
Es ist laut
Alles scheint vorbei
Augenblicke der Ruhe
Nur in der Ferne noch Donner


Nach Wochen in den Kellern
Ist es aus
Langsam aus den Löchern wagen
Erschöpft

Doch die Angst die Todesangst
Geht weiter
Sich verkleiden
Sich verstecken
Wie den Fremden entgehen
Der Gewalt
Zehntausende sterben
Bei den Exzessen

Ich überquere
Straße um Straße
Schleiche über Höfe durch Gänge
Kein Stein auf dem anderen
Wer sind Sie
Komm mit
Krater Tote Rauch
Fliehen ist sinnlos
Zeit gewinnen
Einen Weg bahnen
Unpassierbar
Überall Tote
In Papier eingewickelt
Und nur ein Gedanke
So schnell wie möglich
Nach Hause

Die Häuser
Verschont
Auf den ersten Blick
Je näher
Um so unabwendbarer

Die Häuser
Von Einschüssen
Aufgerissen
Zerfetzt
Zerstört
Im Keller
Verschüttet
Unter einer verkohlten Tür
Die Eltern
Beide tot

Mit ihnen liegen
Begraben
Leichen
Auf den Gehweg gebracht
Ohne Ringe und Finger
Kaum Zeit zu trauern
Anderes dringlicher

Unterkommen
Stockend erzählen
Das Sterben hat kein Ende
Hinsetzen

Am nächsten Tag melden
Als Trümmerfrau
Nichts zu essen
Viel Arbeit
Das Leben in Gang bringen
Monotone Schufterei
Mit aufgerissenen Händen
Nichts fragen
Anfassen
Zähne zusammenbeißen
Harte Arbeit macht nichts aus
Nur nicht herumhocken Etwas tun
Besser Fuß fassen
Im Leben

VI

Wohl zu weit gegangen
Nicht eindeutig auszumachen
Bedrohlicher Zustand
Den ich nicht gewöhnt bin
Das Ausmaß ist alarmierend
Es ist fürchterlich
Unruhig den Himmel beobachten
Und meine Schlüsse daraus ziehen
Trotz der Aufregung
Eins ist sicher
In Kürze wird es beginnen
Alles verdunkelt
Staub und Erschrecken
Monoton langgezogen
Das ist der Untergang

Ganz sachlich versuchen
Auszubrechen aber
Der völligen Zerstörung
Ist nicht zu entkommen
Alles Normale ist abgeschafft
Die Wege sind länger und gefährlicher
Überall Schutt Berge von Schutt
Kein Licht Kein Wasser
Keiner kommt durch
Überall Gestank

Unterwegs durch die zerstörten Viertel
Drohen die aufflackernden Brände
Jeden zu verschlingen

Dabei steht
Die eigentliche Schlacht noch bevor
Und wir sind ohne Waffen
Also nicht am Kampf teilnehmen
Auch nicht bei drohender Gefangennahme

Also Fluchtversuch
Natürlich mißglückt
Nach wenigen Tagen eingeholt
Überall liegen Tote im Schnee
Verbrannt

Dann geht es wieder los
Erde Donner Rauch
Dazu Regen den ganzen Tag
Wir sind eingekreist
Flüchtende strömen vorbei
Fliehende kommen ihnen entgegen
Noch einmal sind alle unterwegs
Sich hastend begegnen
Einander zurufend
Kommt uns retten

Haus für Haus
Ziehen wir uns zurück
Schlagen uns durch
Über eine Brücke
Hinter eine Barrikade
Bergen die Verletzten
Verbinden sie
Holen Wasser
Die Verluste sind schwer
Alles ist kaputt
Niedergewalzt
Es wird ununterbrochen gefeuert
Nachts werden wir überrollt
Werden zerfetzt verkohlt
Erfahren wir den Tod
Schulter an Schulter

Die Lage bleibt unübersichtlich
Unberechenbar
Dann werde ich losgeschickt
Morgens
Wasser zu holen
Hastig einen Eimer zu füllen
Ich suche den Rückweg
Da sackt ein Haus ein
Den Druck der Schuttmassen
Dumpf in den Lungen
Ich bin verschüttet
Eingeschlossen in einen Hohlraum
Nicht sitzend nicht liegend
Auf schlammigen Steinen
Nur das Geräusch
Des zusammensackenden Hauses um mich
Staub und Kalk

Ich muß lachen
Ich bin unversehrt
Aber diese plötzliche Stille
Nach dem Dröhnen nimmt mir den Atem
Wann kommt der erste Gedanke zurück
Wann die Wörter
Ich versuche mich zu orientieren
Was hängt da schräg über mir
Ein Stück Wand
Vor meinem Kopf schwingt etwas
Ein Eisenrohr
Ich gebe Zeichen
Sand rieselt
Etwas winselt
Ein Hund
Er ist nicht zu sehen

Die Zeit vergeht nicht mehr
Sie steht nur nicht still
Ich kann nichts tun
Außer sie über mich ergehen zu lassen
Ich habe Durst
Mein Atem rasselt
Ich schlafe
Ich wache erst wieder auf
Wenn alles vorbei ist
An einem unerreichbaren Punkt
In einem Winkel des Todes
Ich schließe die Augen
Und schlafe ein
In einem Traum
Aus Kalk Staub und Kälte
Mein Körper liegt brach
Eingesackt
Ich sterbe
Wie im Vorbeigehen
Tag und Nacht sind ohne Konturen
Tiere huschen über den Schutt
Ich drücke mich gegen den Boden
Ich mache mich schwer
Ich versuche etwas zu greifen
Ich versuche weiter zu atmen
Ich liege da und lausche
Es ist nichts zu hören
Wieder schlage ich gegen die Rohre
Ich schreie
Bis mir die dünne Luft wegbleibt
Der Hund winselt wieder
Er kommt näher
Ich gebe Zeichen klopfe und schreie
Bis mir schwindlig ist

Von außen nichts
Kein Klopfen
Kein Rufen
Der Hohlraum rutscht weiter in sich zusammen
Ich stöhne und weine
Wer holt mich heraus
Ich spüre den Hund neben mir
Er atmet nur noch schwach
Sie müssen kommen

VII

Aber es hat diese Welt gegeben
Den Stern gelb zerschnitten
Dieses ewige Volk
Die gehißten Fahnen
Der ständige Alarm
Die Flieger und Bomben
Die schwarzen Schwüre
Zu den Waffen greifen
Siegen helfen
Immer schwören
Natürlich bis zum Eid
Sich verpflichten
Ums Leben zu kommen
Ungewohnt mutigen Herzens
Macht sich leichter
Um dann erneut daraus...
Grotesk
Nichts mehr zu sehen davon
Häuser und Plätze verschwunden
Alles leer

Was steht bevor
Vermutlich die nächste Not
Einer meiner Schwerstern
Halb entfernt
Zurück gegen das Leben
Am Ende bleibt die Flucht
Weiter wandern
Vor der Schuld
Neu erworben
Unabbüßbar
Weiter das Grab suchen
Verschlossen
Uneinnehmbar
Den Grund
Bis sich jemand zeigt
Es dauert
Neben ihr sitzen
Krank Schwer
Was zu besprechen ist besprechen
Im blauen Kleid
Den Ton zerdehnen
Das Wort fällt
Stürzt ins Ohr
Der fremde Rhythmus
Wofür wird das alles gebraucht
Was kein Ende findet

Die stattgefundene Auslöschung
Kennt niemand außer mir
Herkunft ist Zuflucht
Einmal über den Berg
Etwa sechstausend Hügel
Winter auf den Feldern
Kürbisschalen
Das Ende der Fahrt
Lastwagen im Hof
Junge Frauen
Abgeschnittene Haare
Das Knirschen der Schritte im Schnee
Hartgefrorene Strohsäcke
Baracken
Der Preis ist hoch
Erdrückt vom Auferlegten
Ich habe einen Karren zu ziehen
Der Tag bestimmt den Gang
Bis die letzte Erde unter den Nägeln entfernt ist

Kreuze
Überall Kreuze
Silberfarbenes Metall
Zwischen den Ähren
Sternförmig an erhöhten Orten
Sie erleichtern die Orientierung
Das Fremde im Blick
Gedanken leuchten
Wie offene Türen
Der Tag mit seiner dröhnenden Stimme befiehlt
Immer weiter zu laufen
Wenn ich schon sterben muß
Zur Friedhofsstation
Sonntags ist dort Tanz
Unsere beiden Schatten sahen wie einer aus
Nicht viel sprechen
Innig geheim
Namen erfährt man erst nach dem Abschied
Wortlos
Ewig deinen Namen sagen
Die Schlacht ist entschieden
Die Siege sind vorbei
Diese Art Ende kommt schnell

Und keines vergeht

Später die Menge Auserwählter
Die da oben sitzen
Was können die bedeuten
Was wird mit ihnen
Es gibt keine Antworten

Wie immer

Im Mythos des Orpheus heißt es, daß der Dichter bei seiner Ankunft im
Totenreich nicht nur den Fährmann Charon, den Höllenhund Kerberos und die
drei Totenrichter mit seiner Musik gerührt, sondern für eine Weile auch die
Qualen der Verdammten gelindert habe.
Weiter heißt es, Eurydike sei Orpheus durch den dunklen Gang gefolgt, nur
geführt von den Klängen seiner Leier.
Eurydike aber hatte mit ihrem Tod den beschwerlichsten aller Wege beschritten,
den aus dem eigenen Leben heraus.
Während sie Orpheus folgte, mußte sie die sieben Sterbensringe, den Pfad ihrer
Erinnerung wieder zurückgehen. Nur so konnte sie Gestalt erlangen.
Manche glauben deshalb, Orpheus habe gegen die Stärke von Eurydikes
Erinnerung angesungen, um nicht überwältigt zu werden von ihrem Sterben.

I

Was denkt er sich dabei
Wenn er überhaupt etwas denkt
Läßt alles stehen und liegen
Statt zu arbeiten

Ich will mich nicht
In seinen Ideen ansiedeln
Dem heiligen Glauben
An den unlösbaren Konflikt
Der historischen Katastrophe
Ihm gilt seine Welt als unveränderbar
Die Zeit wird das überspielen

Wir treiben auseinander
Voneinander weg
Unabänderlich
Wir erschreiben uns
Unsere Entfernung
Die Distanz ist gerecht

Nichts läßt sich nur auf ihn
Oder mich reduzieren
Jedes Einzelne gilt gleich
Seine meine Stimme
Meine seine Sprache
Egal wer entscheidet

Er will mich ausschließen
Erneut ausliefern
Seinen Lebensversuchen
Mich selbst untergraben
Mich entmächtigen
Er will mich mir
Auf brutale Weise entziehen

Ich habe mich gewehrt
Ich konnte es nicht verhindern
Kein Wort dafür aus meiner Zeit
Das mein Leben benennt
Verschleppte Schuld
Müßte es heißen

Aber sich aufzugeben
Das Unausweichliche akzeptieren
Ausgelöscht zu werden
Ist das notwendig

Aber ich versuche
Zu sterben
Aber Sterben ist keine Episode
Mein Sterben ist
Von meinem Leben gezeichnet
Von mir
Mein Sterben bin ich
Jene unnennbare Größe

Das ist keine Frage
Über die man diskutiert
Das ist eine Frage der Disziplin
Beschlossen ist beschlossen
Ich nehme die Pflicht zu leicht
Ich bleibe dem Sterben fern
Ohne zwingende Gründe
Dazu nehme ich Stellung
Das nächste mal

II

Hätte er doch festgehalten
An unserer Gemeinsamkeit
Aus Liebe und Schreiben

Er aber hatte sich längst entschieden
Nach anderem drängte es ihn
In die Schlacht wollte er
In die Textschlacht
Der großen Stoffe
In den Wortkrieg

Für ihn war der Tod
Eine Vakanz
Durch den Tod
Wurden Stellen frei
Den Ruhm beerben wollte er
Der Held Der Genius
Jung und arrogant
Da war ich ihm hinderlich
So fiel seine Antwort aus

Vorenthalten hat er mir
Die ich gebraucht hätte
Seine Fürsprache

Doch wir konnten auch anders
Der Kampf es uns zu beweisen
Hat uns groß gemacht

III

Da war der Auftrag
Den wir gemeinsam erhielten
Material zu sammeln
Zu reden mit Leuten
Durch das Gelände zu ziehen
Das Tatsächliche erfassend
Den Bau Begonnen
Zu schnell zu früh
Auf Fundamenten im Sand
Nachts bei grellem Licht
Gewohnt haben wir
Als Dichterpaar Mit den Arbeitern
In den Baracken gefrühstückt
Mit ihnen gesessen abends
Bei viel Schnaps

Wovon war da die Rede
Von Ökonomie
Von Macht
Von in die Fresse schlagen
Von Beton und Weibern

Von vermauerten Frauen

IV

Seinen Blick wahrnehmend
Ziemlich unterkühlt
Jünger war er
Ohne Aufenthalt
Auf Vermittlung hoffend

Als außerordentlich
Schwierig stellte sich
Sein Weg heraus

Es half ihm nichts
Er fand kaum Beachtung
Ohne Geld
Zu tun hatte er
Nicht zu verhungern

Warum war er nicht geflohen
Vermeinte er nicht abzuweichen
Galt für ihn die Drohung nicht
Verhaftung Isolierung
Was war maßgeblich
Was hatte er erlebt
Schwere Bombennächte
Krieg Kampf

Was suchte er
Seinen Kern
Das Schreiben
Einen Bereich
Von Freiheit und Blindheit

Unberührt von allem
Was draußen vorging
Geheimnis der Liebe

Unendliche Paarung
Die Suche
Nach wechselseitiger
Steigerung
Schreiben mit einer
Einzigen Hand
Gemeinsam zu gehen
Den Weg in das Absolute

Die Gegenseitigkeit
Der Faszination
Seine Sprache
Seine Art sich für den Geist
Der Welt zu interessieren
Seine Form der Anarchie
Diese Kompromißlosigkeit
Des Wortes

Wir teilten das Glück
Einer Liebe in radikaler Zeit
Das Erfahrene in uns tragend
Und es sagend auf eine neue Weise

Es war eine große Liebe

V

Leide ich daran
Nicht mehr
Doch etwas fehlt
Was ist das

Verwirrendes Gefühl
Etwas erklären zu müssen

Ich weiß daß ich
Ihn verführt habe
Vorhin beim Abschied
Seine irritierende Nähe
Dieses erneute Flackern
Darum

Von meiner Schönheit
War er vollkommen gebannt
Meine Art die Dinge zu sehen
Prägten ihn für das Leben
Ich nahm sein Gefühl wahr
Und habe gelacht
Über seine direkte Art
Sich mir zuzuwenden
Von seinem Traum
Von einem großen Gesang
Ich spürte seine Erstarrung
Er sprach von Schiffen
Und endlos langen Flüssen

Ich folgte seinem Gang
Und ließ ihn erzählen
Seine Geschichten
Sein erfrischender Sinn
Sein Ton
Sie erneuerten eine Sehnsucht
In mir
Nach Jona meinem taubenäugigen Bruder

VI

In kindhaftem Eifer
Fähig jede Einzelheit
In des Anderen Ich
Zu erkennen und zu benennen
Lagen wir auf dem Spiegel des Wassers

Er konnte sein Gesicht
Nicht wiederfinden
Verurteilt war er
Zu siebentausend Jahren
Einsamkeit
Erst der Blick eines schönen Mädchens
Sanft und streng
Gab ihm sein Gesicht zurück
Mein Gesicht war sein Spiegel

Gesichtslos und schön
Spiegelbild und Widerschein
Sehen und Erkennen
Erwidern und aneinander
Schön werden

Unmaskiert
Ohne kantiges Wortgeröll

In sieben Spiegeln
In Feuer und Wasser
Stahl und Stein
Stand sie geschrieben
Unsere Liebe

VII

Danach immer mehr Wasser
Augen und Stimmen
Der Wind und die Angst
Einander zu verfehlen
Es war meine Hand die zitterte
Meine Augen groß und schwarz
Darin er sich erkannte

Und dann ein Wanken
Das Gestalt annahm
Wie eine offene Tür
Zu ungetrennten Räumen

Und dann nichts mehr
Das zu machen war

Gegen das
Was geschah

Nichts mehr weiß der Mythos, weder der des Orpheus, noch irgend ein anderer zu
berichten von Eurydike, nachdem Orpheus sie verlor.
Sie vergaß ihn.
Ihr Vergessen ließ sie wieder nach unten sinken, an den Ort, wo keiner einen
Schatten wirft.
Ihr Vergessen war so vollkommen, daß sogar der Schatten ihres Todes weiß
wurde.
Zuletzt löste Eurydike sich auch von diesem und wurde zu dessen Traum.
Erst dies befähigte sie, sich an den Anfang eines Mythos zu stellen, den es bisher
nicht gab.
Ihren eigenen.

I

Alles andere als rosig
Durch Feuer zu laufen
Aber nicht ein Haar verbrannt
Nur vom Weg abgekommen

Kräftezehrend
Immer den Geräuschen nach
Dunkel wie meine Haut
Die wirklichen Straßen sind unsichtbar
Ich habe das Gefühl über Wörter zu laufen
Zum Glück derbes Schuhwerk
Manchmal noch höre ich meine Stimme
Doch ist sie schon sehr entfernt
Ich laufe
Wo geht der rechte Weg ab
Ich laufe
Wo hinaus führt diese Schlucht

Wasser gurgelt
Steinwurfweit entfernt
Verführerisch
Wenn nur zu bleiben gelänge
Der vom Aufstieg Durstigen

Dann über Feld
Ein riesiger unterirdischer Parkplatz
Stufen hinauf zu einem Podest
Durch das Tor mit den zwei steinernen Köpfen
Steinquader die Augen
Unbeirrbar der Blick
Suchend betrete ich die Stadt

II

Verwirrend ihr inneres Wegenetz
Unübersichtlich
Im Fadenkreuz der Gleise
Rangiergeräusch
Ruß Dampf Gedränge
Und wüster Gestank

Unaufhaltsam folgt mir
Mein Körper
Wehrlos wie im Tiefschlaf
Den Stimmen der Lautsprecher
Der Glocke die ruft

Rufe
Wen rufen sie
Mich die neu angekommen ist
Mich die herausgefunden wird
Mich die mitgenommen wird
Mich der ihr Leib abgeschminkt wird
Und nichts belassen wird
Als ein Kostüm ohne Rolle
Weggeschleppt zum Ende des Äußersten
Erzwungene Pflicht zu tun
Meine Pflicht

Und diese vor Augen
Keine Rückkehr
Weil keiner zurückkehrt
Erfaßt mich eigentümliche Wut
Ohne jeglichen Anteil daran
Beginne ich zu verstehen
Anders als es noch möglich war

Daß alles weiter läuft
Alles beibehalten wird
So wie es kommt

III

So kommt es
Mein Ziel hat keinen Weg
Alle Räume sind nach innen eingerundet
Es ist beengend dumpf
Niedrig
Wie in einem kalten Schlauch
In dem ich unterwegs bin
Auf der Suche nach Wörtern

Noch einmal ziehen die Orte vorüber
Die mir Zuflucht waren
Das Überlieferte ist eine Art Schutz
Sonst aber schweige ich
Sitze einsam herum
Folge der Krankheit
Schritt für Schritt
Dem Schmerz etwas abgewinnend

Die Dunkelheit verdichtet sich
Ich liege da
Und bewege mich nicht mehr
Ich spüre die Haut
Das Blut Die Knochen
Die Leere im Innern der Kreatur
Und für einen Moment
Kommen die Wörter wieder
Schmerzhaft gewaltsam
Wird das Überleben
Die eigene Sprache
Die den Abstand zur Bedrohung vergrößert
Von Sprache aufgerissen der Abgrund
Den ich überwinden will

Unaufhaltsam entsteht die Auslöschung
Die absehbare Niederlage
Die Poesie des Verschwindens
Wie Wörter die alles Unnötigen
Sich entledigen
Sich selbst ins Grab legen
In ahnungslosem Spiel
Wie Jona im Bauch des Wals
Um seine Freiheit kämpft
Jona mein Bruder

Ich lösche das Wissen aus
Das ich mit mir herumtrage
Bis zur letzten Silbe
Aufgerissen die letzte
Und aberletzte Haut
Übersinnlich krank
Ungreifbar form-und bindungslos
Ziehe ich auf und davon
Einsam und abgekehrt
Irgendwo landen
An einem allein mir gehörenden Ort
Arbeiten an der Verlorenheit
Ich schreibe nach unten
Bis alles zu Erde geworden ist

Sich nicht aufgeben wollen
Weiter weiß ich nichts

IV

Wer auf Ruhe aus ist
Meidet diesen Ort
Wie stellt man sich hier
Die Zukunft vor
Es ist heiß
Jede Hand wird gebraucht
Mit welchem Recht

Ziemliches Gedränge
Am Eingang groß gewachsene Männer
Jemand zerrt von vorn
Jemand schiebt zur Seite
Jemand gehört nicht hierher
Die Menge zuckt
Ich bin unter die Wartenden gedrängt
Direkt vor ihnen
Ihre Arme um mich
Gegen meinen Widerstand

Hände ruckartig sich hebend
Hände nach unten fallend
Ob ich nicht reden will
Fragt eine Stimme

Das Geschehen kommt mir
Wie Theater vor
Das Podium Das Publikum
Die Zuschauer Der Text
Nicht zu durchschauen
Nur aus der Hand zu lesen
Mit rollenden Augen
Ich werde nicht schlau aus diesem Spiel

Mein Oberkörper zieht sich zurück
Ich stehe auf
Mühsam nach Worten ringend
Stelle ich Fragen
Was mir helfen kann
Blicke
Jeder weiß worum es geht
Was soll das

Ich bin ziemlich durcheinander
Diese Gestalten machen
Eine überaus gute Figur
Scheinen gewohnt
Sich zu zeigen
Aber alles andere
Als weltgewandt
Bieten sich an
Statt zu fordern

Zunehmend fühle ich mich wohl
In ihrer Gegenwart
Meine Unnahbarkeit
Löst sich auf
Zu spröder Vertraulichkeit
Nicht so einfach
Gute Ware ist rar
Sagt einer

Aber es ist anders
Als ich denke
Es ist der Hunger nach Abwechslung
Dabei ist es kalt
Und wir sind müde
Trotzdem ist Lachen zu hören
Dieses Volk läuft auf schmalen Wegen
Das geht so durch die Nacht

Es dämmert
Farbloser Morgen
Den Mantel
Um die Schulter gelegt
Zigaretten
Aus der Tasche kramen
Feuer geben Lächeln
Nach Worten suchen
Rauchen
Ihnen ins Gesicht sehen
Spüren wie sie mich begehren
Und doch es aufschieben
Mich umdrehen
Und wieder langsam
Die Treppe hinauf steigen
Kurzer Abschied
Harte Geste
Unabänderlich vorbei

V

Wie kann von meinem neuen Leben
Eine Rede sein
Dieser Geduldsübung
Zu sitzen und zu warten
Bis ich weiß was die Stunde schlägt
Allgemeine Zeitunsicherheit

Das erste war die eigene Bleibe
Zugewiesen Unwirtlich Fremd
Erschöpft schob ich den Schutt zur Seite
Und kramte in der Verwüstung
Das Unentdeckte zu finden

Hatte ich denn nichts von mir selbst
In das neue Leben mitgenommen
Gehörte das bisherige nicht mehr zu mir
Der Staub mußte den Blick freigeben
Auf das was war

Doch dann kam Besuch
In diese Einöde
Es klopfte an die Tür
Wen konnte es zu mir verschlagen haben
Die Tür wurde aufgerissen
Und er stand lachend im Zimmer
Jona taubenäugig mein Bruder

Ich erkannte ihn sofort
Wir waren glücklich
Über das Wiedersehen
Er war schmal
Schwarzhaarig
Er war mir vertraut
Er war da

Durch ihn holte ich mir
Das Lachen zurück
Obwohl er wenig sprach
Das war ohne Bedeutung
Er war ohne Ehrgeiz
Brauchte keine Veränderung
Und was geschehen war
Blieb auf immer Teil seiner Welt

Wenn er nur nicht
Von meiner Seite gewichen wäre
Wortlos
Nichts mehr wissen wollend
Von meinen Verlusten
Nur zögernd seine kargen Sätze sprach
So etwas habe ich nie wieder gehört
Und im gleichen Atemzug von mir fort
Wieder in seine große Niederlage

War er verloren

VI

Ich habe gezögert
Dieses Leben anzunehmen
Ist das der Ort
An dem die Poesie beginnt

Das Unberührte zu finden
Schreibend leben
Wird es dadurch einfacher
Weniger kräftezehrend

Die Unruhe Die Verbitterung
Die Desillusionierung
Die Ermüdung
Die Suche nach dem Ort im Inneren

Um die Krisen zu überstehen
Unerwartet heftig zutage tretend
Vorboten einer Spannung
Am Rand des Zusammenbruchs
Des Zustandes der Ausnahme
Und schlimmsten Gewalt

Ich kann mir keinen Aufschub
Mehr gestatten
Ich muß Ernst machen
Den Stoff bearbeiten
Der in mir liegt

Jeder Versuch
Zu vorsichtig
Müßte
Schmerzlich stockend
Ins Leere laufen

Um mich her
Der Lobgesang des Terrors

VII

Rückwärts habe ich das Reich der Toten betreten
Vor mir liegt meine Vergangenheit
Ich darf sie nicht loslassen
Die Zeit darf nicht abreißen
Die vergessenen Namen
Die Geschichte vom Krieg
Der Fluch zu töten

Schuldig werden
Fliehen
Aus dem Bauch des Wals
Ausgespuckt sterben
Ungelebt Unausgeführt Verhindert
Das nicht

Das Kaleidoskop meiner Wandlungen
Bild zerspringt zu Bild
Wechselnde Eindrücke
Vieles spiegelnd
Der Schnittpunkt meiner Perspektiven
Das bin ich

Die Schrift der Erinnerung
Zwischen den Zeilen
Die ohne Gewalt dem Erzählen folgt
Ganz egal wohin es führt
Ein Klagelied
Das die Toten in mir erlöst
In einer Sprache
Die den Schmerz bindet
Das Wort
Zwischen Splitter und Entwurf

Der Mythos der Eurydike gibt mehrere Antworten auf die Frage, wer dieser Jona
gewesen sein mag.
Die erste Antwort nimmt an, Eurydike hätte tatsächlich einen Bruder gehabt.
Die zweite Antwort geht davon aus, Jona sei der Name des Werkes, an welchem
die Dichterin insgeheim arbeitete.
Die dritte Antwort vermutet, es sei der Geist des Orpheus gemeint, der
bei ihr weilte









Thomas Körner
Eurydike oder die Umkehr. Gebärdenspiel für einen verkleideten Schatten
© Acta litterarum 2010